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Juli 2005 (für die Berliner Zeitung).

Die Titanic von der Spree. Nach einem rastlosen Leben rostet die „Dr. Ingrid Wengler“ nun im Spreeschlamm.

Während auf dem „Badeschiff“ vor der Arena Wasserratten planschen und auf der „Hoppetosse“ Cocktails geschlürft werden, fristet nebenan ein Schiffswrack sein Dasein - mitgenommen von Wind und Wetter. Halb versunken liegt die „Dr. Ingrid Wengler“ in der Spree. Ab und zu hinterlassen Sprayer ihre Tags, die Inneneinrichtung ist längst geplündert, einige Male stiegen illegale Partys, selbst eine Modenschau soll es gegeben haben.

Auf diesem einst stolzen Schiff lebte Günther van de Lücht – bis es am 17. Oktober 1996 das Schifffahrtsamt hierhin abschleppen lies, an diese vom Lande unzugängliche Stelle gegenüber dem Osthafen. Der Schiffseigner und Kapitän kam gerade von einem viel versprechenden Investorengespräch zurück und traute seinen Augen nicht: Sein ganzes Hab und Gut, sein Zuhause, war einfach weg. Die „Dr. Ingrid Wengler“ war alles, wofür er in den letzten Jahren gearbeitet hatte.

1959 wurde das Schiff gebaut und segelte als Frachter über den Dollart in Ostfriesland. Damals studierte Günther van de Lücht, Jahrgang 1937, Physik und arbeitete danach als Manager bei Triumph-Adler. Mit Ende 40 wagte er den Absprung und kaufte das Schiff. In Nürnberg ließ er die „Ingrid Wengler“ umbauen. „Es steckte voller Innovationen“, schwärmt van de Lücht stolz. „Wir hatten eine Wärmerückgewinnungsanlage und Fußbodenheizungen. Es hatte ein getrenntes Stromnetz an Bord mit Akkus für die Niederspannung und eigener Windkraftanlage. So konnten wir auf laute Generatoren verzichten.“ Den größten Teil des 2,7 Millionen D-Mark teuren Umbaus finanzierte er selbst. Das Schiff erhielt den Namen seiner wenige Jahre zuvor verstorbenen, großen Liebe. Seine Frau war Handchirurgin und verunglückte bei einem Autounfall.

Getreu dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ veranstaltete er Flusskreuzfahrten für anspruchsvolle Kunden. Die Touren gingen von Frankfurt über Rhein und Mosel, Nancy und Strasbourg zurück nach Frankfurt. 1990 kam er nach einem Urlaub in Mecklenburg fasziniert zurück und entschloss sich, Kreuzfahrten über Spree, Havel und Mecklenburgische Seenplatte nach Schwerin anzubieten. Ausgangspunkt sollte Berlin sein, „denn dies war eine spannende Stadt im Umbruch“, sagt der weißbärtige Seemann.

In Berlin angekommen, begann die Tragödie. In der ersten Saison 1991 streikten die Schleusenwärter. „Wir mussten Reisen absagen und Einnahmen blieben aus“, sagt der Unternehmer. „In der zweiten Saison stellte uns aus heiterem Himmel die Bank einen Kredit für eine Maschinenreparatur fällig – trotz guter Geschäftsprognosen.“ Die Bank ordnete die Zwangsversteigerung an und der Gerichtsvollzieher legte die „Ingrid Wengler“ an der Halbinsel Stralau an die Kette. Seine letzte Saison 1993 fuhr das Schiff unter Obhut eines Insolvenzverwalters.

In den Wintermonaten schrieb van de Lücht auf dem ungeheizten Schiff sein Buch „Jagd auf Existenzgründer“. Unter der Schlagzeile „Ich habe eine Million Schulden, wer noch?“ suchte er Leidensgenossen und gründete den Verein „Ausweg e.V.“, der gestrandete Kleinunternehmer unterstützte.

1996 wurde der Pfändungsbeschluss aus dem Schiffsregister gelöscht und die Kette gelöst. Im gleich Jahr meldete sich das Schifffahrtsamt: „Die Stelle, an der das Schiff seit fünf Jahren lag, war ein öffentlicher Liegeplatz. Das ist wie ein öffentlicher Parkplatz“, erläutert Katrin Urbitsch vom Wasser- und Schifffahrtsamt Berlin die Hintergründe. „Da er über Monate auf unsere Bitten und Aufforderungen nicht reagierte, ließen wir die Zwangsräumung anordnen.

In der Zwischenzeit hatte der findige Unternehmer aber schon neue Pläne geschmiedet und Investoren gefunden: „An der Spitze von Stralau sollte ein 80 Meter langer Ponton liegen mit Biergarten, Bootsverleih und Fähren nach Treptow und Rummelsburg. Die „Ingrid Wengler“ sollte Huckepack genommen werden und ein Restaurant beherbergen.“

Als van de Lücht an jenem 17. Oktober 1996 von dem Investorengespräch in der Wirtschaftsverwaltung zurückkehrte, war sein Schiff abgeschleppt. Es wurde an den jetzigen Standort gebracht – ohne Zugang vom Land. Sein Widerspruch gegen den Räumungsbescheid, den van de Lücht vorher „eigenhändig in den Behördenbriefkasten“ geworfen haben will, sei im Amt nicht aufzufinden. Und seine Klage wurde nach zermürbend langer Bearbeitungszeit abgewiesen. „Wir haben versucht, mit ihm gemeinsam nach neuen Lösungen zu suchen und einen neuen Liegeplatz organisiert“, so Katrin Urbitsch, „doch er war leider nicht bereit auf einen Kompromiss einzugehen.“ In der Zwischenzeit kam, was kommen musste: Im Oktober war das Schiff noch nicht winterfest gemacht worden. Doch mit dem ersten Frost zerbarste ein Schlauch und Wasser trat ein. Langsam sank „Ingrid Wengler“ zwei Meter auf den Spreegrund.

Still ruht der See. So liegt sie nun da. Und was mit ihr passieren wird, ist unklar. Van de Lücht hat sich in seinem Leben an Land gut eingerichtet und kein Geld, die Bergung zu zahlen. Das Schifffahrtsamt kann hoheitlich nichts tun, da das Wrack kein Hindernis für den Schiffsverkehr darstellt. „In Verlängerung der Eichenstraße ist eine Marina für Yachten geplant“, so Katrin Urbitsch. „Wird das Projekt umgesetzt, wird das Schiff abgeschleppt werden müssen.“

 

 
 
 
 
 
 
Fotos: Jana Wilhelm (3-7) und Michael Bartnik (1-2).